Versöhnungsreise Österreich - Tag 2

von Zen Zentrum (Kommentare: 2)

Auf den Spuren von Adolf Hitler

„Meine Großmutter hat immer geweint“. Im bergenden Raum der Wir-Runde an unserem ersten gemeinsamen Tag brechen Kindheitserinnerungen und drängende Fragen zu Vergangenheit und Gegenwart in Österreich auf. Während wir uns dem Thema nähern, haben am Vorabend in Linz, der ersten Station unserer Reise, die Delegierten der ÖVP den 30jährigen Sebastian Kurz mit fast 100%iger Zustimmung zum neuen Obmann gewählt. Der politische Jungstar, der ein Zusammengehen mit der FPÖ erwägt, wird ab sofort mit neuen Statuten, die wichtige demokratische Regeln außer Kraft setzen, parteiintern durchregieren können. Was geschieht in diesem Land, in dem Adolf Hitler nicht nur geboren und in seiner Jugend geprägt wurde, sondern das sich bis heute auch so beharrlich weigert, sich intensiver mit der eigenen Beteiligung am nationalsozialistischen Unrechtssystem auseinanderzusetzen?

Wir lesen einen Ausschnitt aus Hitlers Mein Kampf, dem Buch, das in Deutschland und wie ich vermute auch in Österreich, in jedem Haushalt vorhanden war. Erst seit 2016 ist es in einer kritischen Edition wieder auf dem Markt. Es in die Hand zu nehmen war – und ist immer noch? – in Deutschland ein Tabu; in unserer Runde brechen wir es gemeinsam. Dass das Tabu so lange wirken konnte, macht mich nun fassungslos. Die Textpassagen sind aus meiner Sicht absolut selbsterklärend. Sie zeigen eine hochgefährliche Geisteswelt und einen aggressiven Größenwahn, der auch noch religiös-spirituell überhöht wird. Auf der ersten Seite dieser Bibel des Nationalsozialismus ist es zu lesen: „Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande und zwar nicht aus Gründen irgendwelcher wirtschaftlichen Erwägungen heraus…Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich…Erst wenn des Reiches Grenze auch den letzten Deutschen umschließt, ohne mehr die Sicherheit seiner Ernährung bieten zu können, ersteht aus der Not des eigenen Volkes das moralische Recht zur Erwerbung fremden Grund und Bodens. Der Pflug ist dann das Schwert, und aus den Tränen des Krieges erwächst für die Nachwelt das tägliche Brot.“ Und später: „Ich war vom schwächlichen Weltbürger zum fanatischen Antisemiten geworden.“ … „Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“
Was ist das nur? Aus Angst vor der Suggestivkraft dieses Kriminellen enthalten wir unseren Schülern und Schülerinnen sich selbst enthüllende Texte vor, statt sie als wichtigen Baustein der Demokratiepädagogik einzusetzen!

Der nachmittägliche Gang durch Linz führt uns zu Hitlers Realschule. Hier ist er zum ersten Mal intensiv auf deutschnationales Gedankengut gestossen. Auch Adolf Eichmann, der Planer der Judenvernichtung, und der Philosoph Wittgenstein haben an dieser Schule gelernt. Betroffenheit stellt sich ein: Was können wir heute tun, um junge Menschen stark zu machen gegenüber geistigen Vergiftungen?. Wie können wir Räume schaffen, in denen Schüler und Schülerinnen Selbstwirksamkeit und Demokratiefähigkeit entwickeln statt sich als Versager wie der junge Hitler zu erleben?

Abends dann der Vortrag zum Thema Schuld von Antje: Darf ich ein Familienmitglied lieben, das in dunkler Zeit verbrecherische Schuld auf sich geladen hat? Bin ich dazu verdammt, die Schuld zu tragen, die mein Großvater nicht bereit war, sich und der Welt einzugestehen? Werde ich schuldig, indem ich wegsehe, statt Widerstand zu leisten? Antje, unsere abendliche Impulsgeberin, hat ihren Großvater als kleines Mädchen lieben gelernt, nicht ahnend, dass er schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Damals hatte sie nur ein diffuses Gefühl, dass irgendetwas nicht stimme. Wir erleben an diesem Abend eine Frau, die ihr ganzes Leben um Antworten auf solche Fragen gerungen hat. Eine Rückmeldung aus dem Kreis bringt es für sie zutreffend auf den Punkt: Es tut gut, einen konkreten Anlass für Versöhnung zu haben, statt im Dunkeln zu tappen. Und Versöhnung, so gibt sie uns mit auf den Weg, geht nur, wenn wir den Positionswechsel wagen, wenn wir uns für die Sicht des anderen öffnen und um Verstehen bemühen.

Barbara von Meibom

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Kommentare

Kommentar von Huez-Galli Ursula |

Ich hatte einen Onkel in Deutschland, den ich sehr liebte.
Er war zu Hitlers Zeiten in seiner Uniform ein sehr
eleganter Unteroffizier und ein schöner Mann. Allerdings
bei der Wehrmacht und nicht bei der SS.
Was diese attraktiven Soldaten damals angerichtet haben,
weiss man heute zum Teil, mein Onkel aber redete nie
von seiner Zeit im Militär, auch nur wenig von seiner
russischen Gefangenschaft. Fakt ist: Nach seiner Heimkehr aus Russland wurde er fundamentalistisch fromm und blieb es bis an sein Lebensende. Er ruhe in
Frieden.
Es muss sehr schmerzlich sein, bei seinem eigenen,
geliebten Grossvater so Schreckliches zu entdecken.

Kommentar von Helga Schmid |

Danke, daß ich auf diese Art an der Versöhnungsreise teilhaben darf. In meiner eigenen Familie und während meiner ganzen Kindheit war "der Krieg" ein allbeherrschendes Thema. Es gibt ja wirklich niemanden, der zu Kriegszeiten lebte, der nicht auf irgendeine Weise mittel- oder unmittelbar davon betroffen war. So viele unglaubliche Geschichten, so viel Leid.
Ich denke, in unserer Macht liegt es, friedvolles Gedankengut und Miteinander zu pflegen. Die Herzen zu öffnen und Liebe fließen zu lassen. Bewusstsein zu schaffen und daraus heraus mit sich selbst und allem anderen gut sein zu können.
Ich wünsche Euch erfüllte Tage und begleite Euch gerne.

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