"...niemals nachlässig, niemals!"

„Hört gut zu, ich sag Euch allen,
Leben und Tod sind von grossem Ernst.
Alle Dinge gehen schnell vorbei.
Seid stehst wachsam, niemals nachlässig, niemals!“

In jedem Sesshin werden zum Tagesabschluss diese Verse, der sogenannte Totenruf, in die Zen Halle gerufen. Diese Ermahnung, ganz wach zu sein, am Ende eines anstrengenden Tages, hat mich immer wieder erstaunt. Es ist ein Ruf in die Dunkelheit der Nacht, in den Schlaf, den kleinen Tod. Dass der Sterbeprozess nicht nur auf der psychisch-geistigen Ebene im Zendo beginnen kann, sondern wirklich und ganz konkret, diese Erkenntnis verdanke ich einer meiner ältesten Schülerinnen, Anita Dällenbach. Und sie machte uns damit ein grosses Geschenk.

Und dies kam so:

Am 17.12. 2015 fand am Abend das letzte öffentliche Dokusan des Jahres statt. Das Zendo war voll belegt mit Schülerinnen und Schüler, die auch eine weite Anreise nicht scheuten. Dieser Abend sollte für viele ganz besonders werden. In den Dokusanraum drang immer wieder Stimmengeflüster aus dem Vorraum. Als die Unruhe nicht abflauen wollte, unterbrach ich das Einzelgespräch, um nachzusehen, was los war. Und dann sah ich sie. Anita lag im Nebenraum, im Therapiezimmer auf der Liege, um sie Bernadette Vögele und Ursula Paparic, beides Frauen, die in medizinischen Berufen tätig sind. Sie vermuteten, dass Anita einen Schlaganfall während der ersten Sitzperiode erlitten hatte. Ich sprach Anita an, erst erkannte sie mich nicht, doch dann schien sie erleichtert zu sein, mich zu sehen und sprach: „Ich wollte Dich noch einmal sehen und mich von Dir und der Sangha verabschieden, weil das lange Sitzen in den Zen Kursen für mich nicht mehr möglich ist.“ Hatte sie geahnt, wie radikal der Abschied sein würde? Ihre Verwirrung nahm immer mehr zu. Der Arzt, der mit dem Krankenwagen kam, bestätigte die Diagnose. Anita brauchte dringend ärztliche Hilfe.

Dann geschah nochmals etwas, das für alle Beteiligten unvergesslich bleibt. Da der Eingang ins Zen Zentrum für die Tragbahre zu eng ist, durften einige Sanghamitglieder Anita aus dem Zentrum tragen. Das war ihr Abschied von der Sangha. Michel Jaquet, der sie in ihrer Wohnung in Pfaffhausen, wo sie allein lebte, abgeholt hatte, begleitete sie ins Spital. Sichtlich bewegt sprach er voller Bewunderung von ihr, wie sie sich doch alles so wunderbar eingerichtet habe: Während dem Zazen der Schlaganfall, die gute erste Betreuung von zwei erfahrenen Frauen, der bewusste Abschied von mir, in den Armen der Sangha ins Krankenauto getragen… Welche Orchestrierung der letzten Stunden des Lebens!

Am nächsten Tag besuchte ich Anita zusammen mit Alexandra Zvekan im Spital. Sie ist Musikerin und als Leitungsassistentin im Zentrum tätig. Alexandra sang für Anita, die im Koma lag, ein zauberhaftes nur für sie bestimmtes Lied.  Wir durften miterleben, wie sich der Atem langsam beruhigte. Es bestätigte sich einmal mehr, dass Menschen auch im Koma weiter wahrnehmen. Anita Dällenbach starb am 19.12. am frühen Morgen, begleitet von ihrer Tochter Mariann Dällenbach.

Gate gate Paragate Parasamgate Bodhi svaha.
Gegangen, gegangen, hinübergegangen, ganz hinübergegangen, welch ein Erwachen.